Station 1 – Stolperstein von Anneliese Oelte

Rede von Henning Rohwedder am Stolperstein von Anneliese Oelte

Vor 20 Jahren, genau am 19. Mai 2003, wurde dieser Stolperstein, an dem wir uns hier versammelt haben, verlegt.
Dieser Stolperstein für ein kleines Mädchen mit Behinderungen aus Ahrensburg war der allererste, der in Schleswig-Holstein verlegt wurde.

Begonnen hat die Stolperstein-Aktion im Jahre 1996 und gerade in diesem Jahr, am 26. Mai 2023 wurde der 100.000ste Stolperstein, dieser inzwischen europaweiten Aktion des Künstlers Gunter Demnig, verlegt.

Zur Vorbereitung meines Beitrags habe ich in Hamburg den Infoladen der Landeszentrale für Politische Bildung in der Nähe der Staatsoper besucht.
Was habe ich dort gelernt?
In unserer großen Nachbarstadt hat die Verlegung von Stolpersteinen im Jahre 2002 begonnen, gerade konnten wir in der Zeitung lesen, dass der 7000ste Stein gelegt wurde.
Und in diesem Infoladen gibt es dazu eine ganze Reihe von stadtteilbezogenen Büchern über die Biografien der Personen, denen auf dem Stolperstein ja nur mit kurzen Daten gedacht werden kann.
Ich fand das sehr beeindruckend.

In Ahrensburg haben wir 6 Stolpersteine.
Und ich sage jetzt schon mal: Wir haben inzwischen durch die Gänge des Erinnerns und die Arbeiten, insbesondere der Schülerinnen und Schüler dazu, so viel Material, dass ich mir wünsche, ganz old school, zu unseren Stolpersteinen ein kleines Büchlein oder eine Broschüre zu erstellen.
Der ehemalige Wohnort meiner Eltern, Quickborn, hat das für 5 Stolpersteine auch geschafft.

In dem Infoladen habe ich auch das „Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939 – 1945“ gefunden.
Über 4700 Namen von Opfern sind dort aufgelistet, auch unser kleines Ahrensburger Mädchen Anneliese.

Ich zitiere:
„Anneliese Oelte, geb. 30. 9. 1934 in Ahrensburg, Kreis Stormarn, Schleswig-Holstein
16.8. 1943 aus Alsterdorf nach Wien
Tod am 8.7. 1945 in Wien – Spiegelgrund, Kinderfachabteilung“

Es gehört sich an dieser Stelle, diesen nüchternen Eintrag zu erläutern und über das Thema Euthanasie zu informieren. Das tue ich anhand der Akte von Anneliese aus den Alsterdorfer Anstalten und eines Artikels von Dr. Michael Wunder zur Geschichte der Euthanasie in Hamburg, der sich auch in dem Gedenkbuch findet.

Anneliese wird als Tochter von Erna Oelte, geborene David, und Walter Oelte, der Gärtner von Beruf ist, in Ahrensburg geboren.
Die Familie lebte hier in der Ernst-Ziese-Straße Nr. 2.

Im Alter von 2 Jahren kommt sie das erste Mal in die Alsterdorfer Anstalten:
„Die Aufnahme der Anneliese Oelte in die Alsterdorfer Anstalten ist wegen Intelligenzdefekt, Nystagmus und einer gewissen Muskelschwäche erforderlich.“ So beschreibt Dr. Rath, der Hausarzt der Familie den Einweisungsgrund.

Die Familie holt das Mädchen nach 4 Monaten nach Hause zurück. Sie war aus Alsterdorf wegen Grippe und hohen Fiebers ins Wilhelmstift Rahlstedt gebracht worden.
Ein Versuch, Anneliese im Alter von 4 Jahren in einem regulären Kinderheim, St. Josef in Bad Oldesloe, unterzubringen scheitert.
Sie passt dort mit ihrer Behinderung nicht hinein, sie wird als nicht bildungsfähig tituliert und mit der Diagnose „Idiotie“ im November 1938 wieder in Alsterdorf eingewiesen.

Und spätestens mit dem Kriegsbeginn 1939 ist dann auch das kleine Mädchen Anneliese, wie so viele andere Menschen auch, die in Anstalten und Heimen leben, einer, so darf man wohl sagen, schleichenden Euthanasie ausgesetzt.

Euthanasie wurde in der Medizingeschichte lange im Wortsinn als „gutes Sterben“ und Sterbebegleitung verstanden.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen sozialdarwinistische und rassenhygienische Gedanken auf.
Dies gipfelte 1920 in der berühmten Schrift des Strafrechtlers Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.
Neben der Gruppe der unheilbar Kranken und denen, die wir heute als Wachkomapatienten bezeichnen, und wo es noch um selbstbestimmtes Sterben geht, sprechen die Autoren von einer dritten Gruppe, die, ich zitiere diese unglaublichen Worte „unheilbar Blödsinnigen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden und fast in jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet“.

Es findet eine Verquickung statt von Selbstbestimmung, Töten auf eigenes Verlangen, das ja bis heute diskutiert wird und Fremdbestimmung, wenn die „Erlösung vom Leiden eines für nicht mehr wert befundenen Lebens“ mit Nützlichkeits- und Werteüberlegungen verknüpft wird.
Dann werden Menschen mit Hetzbegriffen tituliert und das passiert schon deutlich vor 1933:
nutzlose Esser, leere Menschenhüllen, Ballastexistenzen.

Dr. Wunder schreibt, dass man in den 20er Jahren des vorherigen Jahrhunderts von einem weitgehenden gesellschaftlichen eugenischen Konsens ausgehen muss.
Darauf aufbauend haben die Nationalsozialisten schon am 14. Juli 1933 „Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen.

Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden zwischen 1933 und 1939 mindestens 350.000 Menschen zwangssterilisiert.
Die zunehmende Brutalisierung der Sterilisationspraxis, eine beständige Propaganda gegen schwächere, kranke und behinderte Menschen und dazu rassenhygienisch begründete immer weiter um sich greifende Einweisungen von abweichenden oder für unbrauchbar gehaltenen Menschen in Heime und Anstalten werden heute als wichtige Voraussetzung für die ab 1939 einsetzende Durchführung der „Euthanasie-Morde“ angesehen.

In der „Kindereuthanasie“ werden bis zum Kriegsende ca. 10.000 Kinder mit Behinderungen ermordet. Viele werden auch für medizinische Experimente missbraucht.

In der T4 genannten Erwachseneneuthanasie werden bis 1941 ca. 70.000 Anstaltspatientinnen und – patienten getötet.
Nach Protesten der Bevölkerung wurde T 4 im August 1941 gestoppt.
Die Zentrale der Aktion T 4, in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, wurde jedoch nicht aufgelöst.
Es ging weiter, differenziert wurde in therapierende Heileinrichtungen und reine Verwahranstalten für „abgelaufene Fälle“.

Ab Mitte 1942 wurden die Heil- und Pflegeanstalten in großräumige katastrophenmedizinische Planungen einbezogen.
Was bedeutet das?
Einrichtungen in weniger luftkriegsgefährdeten Gebieten sollen frei sein für akutmedizinische Versorgung, Ausgebombte oder auch militärische Nutzung.
Somit gab es eine systematische Verdrängung der bisherigen Anstaltsbewohnerinnen in entfernt gelegene Anstalten, wo durch Überbelegung, Vernachlässigung, systematische Unterernährung oder auch durch überdosierte Medikamente getötet wurde.
Dieser Phase der Euthanasie fielen ca. 100.000, anderen Schätzungen nach, über 250.000 Menschen zum Opfer.

Genau dies passierte auch in den Alsterdorfer Anstalten und davon ist auch Anneliese, unser Ahrensburger Mädchen, betroffen.
Die Anstaltsleitung hat in einer Art vorauseilendem Gehorsam schon 1942 begonnen, Gebäudeteile der Anstalt für kriegswichtige Ziele zu räumen.
Im August 1943 werden über 300 Hamburger Mädchen und Frauen aus Alsterdorf, darunter Anneliese, und der Psychiatrie Ochsenzoll nach Wien verlegt.
Die offizielle Begründung der Bombenangriffe auf die Stadt ist wohl vorgeschoben.

In einem Güterwagen erreichen sie am 17. August 1943 Wien und kommen dort in eine sehr große Einrichtung, die „Wagner von Jauregg, Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien für Geistes- und Nervenkranke Am Steinhof.
Auf dem Gelände dieser Anstalt gab es die Fürsorgeanstalt für Kinder, Am Spiegelgrund“ zu der auch eine sogenannte Kinderfachabteilung gehörte, in der Kinder medizinischen Versuchen ausgesetzt waren und Ärzte über Leben und Tod entschieden.
Die Hamburgerinnen waren in Wien nicht willkommen, die Anstalt war voll.
Durch Vernachlässigung, Unterernährung und mangelnde Pflege waren sie dem geplanten Tod preisgegeben.
Anneliese, so sagt es ein Eintrag in ihrer Akte von 1944 „verfällt“, die Gewichtseintragungen werden immer geringer. Das neunjährige Kind wiegt im Mai 1945 noch 17 Kilo, sie stirbt, zwei Monate nach Kriegsende, am 8. Juli 1945.
Die Eltern erfahren erst ein Jahr später mit Schreiben vom 19. Juli 1946, dass ihre Tochter an Lungentuberkulose und Darmkatarrh gestorben sei.
Das ist die so grausame Geschichte zu den Daten auf diesem Stolperstein oder dem Eintrag im Hamburger Gedenkbuch.

Erlauben Sie mir nun noch ein paar Worte zur Gegenwart.

Als Vorsitzender des Behindertenbeirats freue ich mich über die Patenschaft der Woldenhorn-Schule und der Werkstatt „Die Ahrensburger“ für diesen Stolperstein.
Dieser Stein mit seiner Geschichte sei uns Verpflichtung unsere Stadtgesellschaft hier in Ahrensburg offen und inklusiver zu organisieren.
Dann habe ich die Hoffnung, dass Ausgrenzen, Wegschieben, Vernachlässigen und letztlich auch Übergriffe nicht so schnell passieren.

Und wir müssen aufpassen!
Wenn Björn Höcke von der AfD in Thüringen im Sommerinterview im MDR von der Inklusion als Ideologieprojekt spricht, von dem man das Bildungssystem befreien müsse, dann hat das sehr zu Recht, zu einem Aufschrei bei Behindertenverbänden geführt.

Aber auch andere Entwicklungen bereiten große Sorge!
Dies betrifft vor allem den Mangel an Personal, um Inklusion umzusetzen.
Wenn der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen einer Staatenprüfung die deutschen Sondereinrichtungen kritisiert und wir dies ändern wollen, brauchen wir dazu Menschen.

Aktuell sehe ich Rückschritte in der Unterstützung, bei der Förderung, beim Lernen, bei der Assistenz von Menschen mit Behinderungen in Kitas, in Schulen, in der Ausbildung, an Universitäten und besonders auch im Arbeitsleben.
Es gibt in diesen Krisenzeiten so viele andere, brennende Probleme und dann ist die Inklusion nicht im Mittelpunkt, sogar der Status Quo ist häufig gefährdet und das auch in Ahrensburg.

In meiner Rede an dieser Stelle von 2019 habe ich hoffnungsvoll den Beschluss der Stadtverordneten in Ahrensburg erwähnt, die eine Teilhabeplanung für ein inklusives Ahrensburg in Auftrag gegeben haben. Dieses Projekt, das es in vielen Städten und Gemeinden schon gibt, liegt nach einem engagierten Start in Ahrensburg zurzeit auf Eis.
Im Stellenplan für 2023 vorhandene Stellen zur Neuankurbelung dieses Projekts und für die Arbeit mit ausländischen Mitbürgerinnen, Senioren und Menschen mit Behinderungen sind noch nicht ausgeschrieben.
Begründung: Personalmangel

Die Fortführung des barrierefreien Umbaus der Bushaltestellen und Ampelübergänge in Ahrensburg ruht.
Begründung: Personalmangel

Der barrierefreie Umbau der Innenstadt, ein so häufig von Betroffenen geäußerter Wunsch, ruht.
Begründung: Bürgersentscheid zum Parken und Personalmangel.

Ein inklusives Ahrensburg ist ein Langzeitprojekt, das sich nicht mal schnell nebenbei erledigt lässt oder dass man Verschieben kann, bis die S4, Straßen, Kitas oder Schulen neu gebaut sind.

Jedes Jahr müssen und werden wir daran erinnern, hier an diesem Stolperstein für das Ahrensburger Mädchen Anneliese Oelte.

Henning Rohwedder
Vorsitzender des Behindertenbeirats
der Stadt Ahrensburg


Beitrag der Woldenhornschule